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Montag, 11. April 2011

Der Online-Roman Teil 2

von Jones Aman
Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. Alice in ihrem Schock völlig bewegungsunfähig und mit gehetztem Blick, gefangen in den Klauen einer Kreatur, deren Existenz sie noch gestern angezweifelt hätte. Ich in geduckter, sprungbereiter Haltung, etwas verblüfft über den Verlauf der Dinge. Und dann noch er, drohend, mir meine Beute wegzunehmen. Normalerweise tun wir das nicht. Seit die Clans und Rudel aufgelöst wurden, jagt jeder Wolf für sich allein. Wir gehen uns aus dem Weg, und wenn wir uns dann doch einmal begegnen, dann lassen wir uns nichts anmerken. Kämpfe sind sehr, sehr selten geworden. Dafür sind sie umso wilder, blutiger und tödlicher, wenn es einmal dazu kommt. Genauso wie jetzt.
 Er musste mitbekommen haben, dass er nicht der einzige Wolf auf der Lichtung war, denn er prüfte, mit den Nasenflügeln zuckend, die Luft, und dann fiel sein Blick auf mich. Der andere hatte ein blasses Gesicht mit geröteten Augen und tiefen, dunklen Augenringen, bei denen ich mir nicht sicher sein konnte, ob sie nun geschminkt oder echt waren. Allerdings tippte ich auf echt, denn letzte Nacht war Vollmond gewesen. Da kriegte kein Wolf ein Auge zu, denn im Zeitraum nahe dem Vollmond war der Blutdurst immer besonders groß, und man konnte sich nur sehr schlecht beherrschen. Das blassblonde Haar hatte er zu einem Zopf straff nach hinten gebunden, und er trug eine dunkelblaue Jacke. Es stand fest – das hier würde nicht in einer friedlichen Diskussion enden, sondern in einer wilden körperlichen Auseinandersetzung.
 Wenn er sie jetzt töten würde, musste er sich danach gegen mich verteidigen. Er könnte auch mich zuerst angreifen, um danach in Ruhe seine gestohlene Beute zu verschlingen. Oder aber – was sehr, sehr unwahrscheinlich war – er kapitulierte schon vorher, um diese Nacht unversehrt heimzukehren. Aber das würde er nicht wagen. So etwas tut ein Wolf nicht. Dann hätte er mit allgemeiner Verachtung und Spott rechnen müssen.
 Und dann begann er mit sanfter, weicher Stimme zu sprechen. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als mir bewusst wurde, dass ich diese Stimme kannte, und auch das Gesicht, zu dem sie gehörte.
  Meine Vermutung bestätigte sich, als mich der andere beim Namen nannte.
»Nun? Was willst du jetzt tun, um deiner zuckersüßen Freundin zu helfen? Mir scheint nämlich, man müsse sich davon überzeugen, dass ihr Blut hält, was ihr niedliches Gesichtchen verspricht«, säuselte er lüstern. Geradezu widerlich, beinahe schmierig, und man hätte meinen können, er scherze, wenn nicht die Situation so todernst gewesen wäre.
 Zur Antwort bekam er daher nichts weiter als ein wütendes Knurren.
 »Oh, verstehe. Du bist darauf aus, den verzweifelten Helden zu spielen. Sehr edel, wirklich, sehr edel…«Er schien keine weiteren Umschweife machen zu wollen, denn nun drückte er mit einer Pranke leicht Alices Kopf beiseite, um ohne Probleme die Zähne in ihren Hals schlagen zu können. In diesem Moment blieb mir gar nichts anderes übrig, als zu handeln. Das gehörte zu den Dingen, die ich mir nun wirklich nicht bieten lassen konnte. Ich war erstaunt, denn in diesem Augenblick ging es mir weniger um das Essen als vielmehr um Alice und meine und ihre, unsere, Ehre.
 Ohne groß zu überlegen rief ich den Wolf in mir und griff den anderen in meinem dunkelbraunen Fell an. So wütend ich war, umso  überraschter war ich doch, als ich bemerkte, dass er mich auch schon in seiner Kampfgestalt empfing. Er musste mit dieser Reaktion gerechnet und sie erwartet haben. Rasch ließ er von Alice ab, duckte sich zur Seite weg und verhinderte so, dass ich direkt auf ihm gelandet wäre. Ich hörte Alice entsetzt aufschreien, als sie meinen Gestaltenwandel bemerkte und den nahenden Kampf aufwallen spürte. Ich wollte sie warnen, doch mir blieb nicht viel mehr Zeit als für einen alles sagenden Blick aus den orangefarbenen Wolfsaugen.  Renn, verdammt noch mal. Renn und dreh dich nicht um.
 Sie schien mich besser zu verstehen, als ich gedacht hatte, denn sofort erwachte sie aus ihrer Starre und stolperte los, die ersten Schritte rückwärts.
 »Auf deine Verantwortung! «, brachte sie hervor, dann drehte sie sich um und verschwand, zusehens schneller werdend, zwischen den Bäumen. Ob aus Glück oder aus Zufall, sie hatte die richtige Richtung gewählt. Ich wendete meine Aufmerksamkeit wieder dem anderen Wolf zu. Wie hieß er gleich? Alberto? Allister? Augustin?
 Nennen wir ihn Augustin. Wie Caesar. Das passt zu ihm, weil er nicht den Eindruck machte, als ob er auch nur einen einzigen Sieg ausschlagen würde.
 Wie eine Schlange fauchend wieselte er am Boden herum, wedelte mit dem Schwanz, witterte die Chance, diese Nacht mehr als ein  Opfer zu bekommen. Dieses Erfolgserlebnis wollte ich ihm nun wirklich nicht gönnen, also duckte ich mich ebenfalls, spannte den gesamten Körper an. Er war zwar noch jung, sehr viel jünger als ich, doch er schien sehr stark und ausgefuchst zu sein. Bloß nicht unterschätzen. Um hier etwas ausrichten zu können, würde ich den Überraschungseffekt nutzen müssen.
 Das tat ich dann auch. Unter Kampfgeschrei drückte ich mich vom Boden ab, glitt einen kurzen Augenblick durch die Luft und landete dann auf dem völlig verdattert dreinblickenden Augustin. Das hier heute Nacht würde unter gar keinen Umständen friedlich enden. Es konnte bloß einen Sieger geben. Und das würde dann unweigerlich auch über Alices Leben entscheiden, denn weit konnte sie noch nicht sein, und lang genug für eine erfolgreiche Flucht würde unser Scharmützel nicht dauern. Entweder gab es zwei Tote oder nur einen.
 Mir war der Appetit auf Menschenblut vergangen.

 Wir umkreisten uns und musterten uns mit stechenden, messerscharfen Blicken. Ein Fehler bot dem jeweils anderen die Gelegenheit, zuzuschlagen. Nur eine törichte Handlung.
 »Nun«, hechelte Augustin, »Was willst du jetzt tun? Mich töten? Fliehen? Bah, nur zu, aber vorher musst du an mir vorbei. Und das wird nicht so einfach, wie du denken magst.«
 Dieser scheußliche, widerlich süße Unterton in seiner Stimme war es, der mich zur Weißglut brachte. Wütendes Knurren. Ich spuckte es ihm entgegen, als wäre es ein alter Kotzbrocken. Woraufhin er als Antwort nichts als ein klebriges Lachen übrighatte. Das machte mich endgültig wahnsinnig, und wie ein felliger, dunkler Blitz stürzte ich auf ihn zu. Sein Lachen erstarb just in dem Moment. Und es war mein Fehler. Denn genau auf diesen Augenblick hatte er gewartet. Wie üblich hechtete er zur Seite weg, doch das hatte ich auch schon eingeplant. Gleich, als ich aufkam, wirbelte ich herum, und als ich ihm dann Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, verwandelte sich meine Siegesgewissheit in blankes entsetzen, das Gefühl, dass jeder Werwolf an seinen Opfern so liebte. Denn er hatte seine kräftige Pranke schon erhoben, bereit, die Krallen auszufahren und zuzuschlagen.
 Mit übernatürlicher Wucht trafen mich die dornigen Krallen. Und mein letzter Gedanke galt Alice, dem Mädchen, dass ich vor noch einer Stunde hatte töten und fressen wollen. Dann umfingen mich die Schatten der Ohnmacht.

Fiiiieeep. Fiiieeep.
 Ich lag bewegungsunfähig in einem weißen Raum. Alles war verschwommen, ich konnte nichts genau erkennen. Nur überall dieses sterile, unbefleckte Weiß, das ich nicht identifizieren konnte. War das die Hölle? Wenn es so was wie das Paradies wirklich gab, wäre ein Wolf wohl der letzte, der dort hingelangen würde. Ich wartete darauf, dass meine Sicht schärfer wurde und nach einiger Zeit sah ich wieder besser. Ich schaute mich um. Das hier war weder der Himmel noch die Hölle, geschweige denn meine Wohnung.
 Das hier war ein Krankenhauszimmer.
 Wie war ich nur hierher gekommen? Ich wollte mir in Gedanken den Kopf kratzen, doch sobald ich ihn auch nur berührte, durchzuckte es mich wie ein Blitzschlag, heiß und schmerzhaft, und dieser Schmerz war es auch, der mich an die Ereignisse der vergangenen Nacht erinnerten. Alice. Die Jagd. Augustin. Der Kampf. Die Bewusstlosigkeit, aus der ich soeben erwacht war. Meinen Kopf umspannte ein krankenhausweißer Verband, und einen meiner Arme konnte ich nicht frei bewegen, denn er steckte in einer Art Gestell fest, und mehrere Kabel, durch die durchsichtige Flüssigkeit gepumpt wurde, waren in meine Vene eingeführt worden.
 Kein Wolf ist tagsüber derselbe wie nachts. Am Tag sind wir wie die Menschen, doch sobald die Sonne untergeht, wird ein unstillbarer Trieb in uns wach, der unablässige Wunsch, zu töten. Was die Nacht aus uns macht, ist nur eine brutale Kopie unserer selbst. In diesen Momenten gibt es nichts, was uns aufhalten könnte.
 Doch nun lag ich, an die Liege gefesselt, in einem Hospital, allein. Ich musste an Alice denken, die die letzte Nacht unmöglich überlebt haben konnte. Nicht bei einem Gegenspieler vom Schlag eines Augustin.
 Die Enge und mein Bewegungsdrang machten mich verrückt. Beinahe schaffte es die Nacht, wieder in meinen Kopf einzudringen, doch ich  lehnte mich dagegen auf, versuchte standhaft zu bleiben. Hier durfte ich nicht zum Wolf werden. Nicht in einem Krankenhaus, wo mich jeder sehen kann. Nein, das konnte sich keiner von uns leisten, dann würde man ausgestopft in einem Museum oder , noch schlimmer, lebendig im Labor landen, und früher oder später würden die Menschen dann wieder anfangen mit Hexenverbrennung und der Geschichte mit den Silberkugeln und Holzpflöcken. Nein, das hatten wir alles schon vor hunderten von Jahren. Wir sind oft heißhungrig und werden dadurch manchmal blind, aber dumm sind wir nicht. Mit der Zeit lernte man, wann die richtigen Zeitpunkte zum Verwandeln waren und wann nicht. Schon lange war keiner mehr von uns auf Jagd erwischt worden. Damit es nicht so auffiel, dass wir Menschen ermordeten begnügten wir uns jeder für einen gewissen Zeitraum damit, Schafe zu töten. Das war zwar noch lange nicht so befriedigend wie das Leben eines Menschen zu beenden, aber man wurde satt. Außerdem gab es ein ungeschriebenes Gesetz, dass besagte, dass kein Wolf wahllos töten durfte. Das Opfer musste er oder sie vorher sorgfältig auswählen und dann gezielt Jagd darauf machen. Es gab zwar niemanden, der kontrolliert , ob sich jeder daran hielt, aber es wurde nicht gern gesehen, wenn ein Artgenosse einen ihm völlig unbekannten Menschen eliminierte.
 Ich musste mich schütteln, so pervers und widerlich kam mir dieser Gedanke allein vor, nur Leute zu schlachten, die man kannte, aber das lag am Tageslicht. Nachts dachte ich ganz anders darüber, und das wusste ich. Es bringt nichts, sich selbst etwas vormachen zu wollen.

 Wie lange war ich schon auf dieser Station? Vier, Fünf, Sechs Stunden? In all diesen unausgefüllten Minuten war nichts passiert, was meine Aufmerksamkeit hätte erregen können. Noch nicht einmal aus dem Fenster zu schauen war mir vergönnt, denn es war mit einem typischen weißen Krankenhausvorhang verdeckt, sodass nur das Sonnenlicht hineinfiel, man aber nicht nach draußen schauen konnte. Zweimal war eine junge, aber langweilige Krankenschwester vorbeigekommen. Das erste Mal, um zu sehen, ob ich denn schon wach sei, und dann, um mir Essen vorbeizubringen. Nett gemeint, sie wusste ja nicht, dass ich nur Fleisch aß, Rohes. Allerdings hatte ich einen solchen Hunger, dass ich es tatsächlich fertig brachte, das gegrillte Stück Fleisch herunterzuwürgen. Aber die Kartoffeln und das Mischgemüse hinterherzuschaufeln, das konnte ich mir nun wirklich nicht zumuten.
 Ich lag also völlig allein in meinem weißen Bett inmitten eines weißen Raums eines weißen Krankenhauses mit weißen Vorhängen, nur in der Gesellschaft meines halb leer gegessenen weißen Tellers und einer Topfpflanze mit dekorativen weißen Blüten. Die Schmerzen in meinem Kopf hatten nachgelassen, dennoch wagte ich noch nicht, den Verband ein weiteres Mal anzufassen.
 Die Uhr mit dem weißen Ziffernblatt gab ein nervtötendes Ticken von sich, und da ich sie nicht ausschalten konnte, und sowieso nichts besseres zu tun hatte probierte ich, mit meinem freien Arm Kartoffeln nach ihr zu werfen, um sie so zum Schweigen zu bringen. Doch meine Trefferquote war sehr gering, und irgendwann gingen mir die Kartoffeln aus. Ich wollte gerade wieder damit anfangen, mich zu langweilen und anschließend selbst zu bemitleiden, da ging die Tür auf.
 Ich drehte meinen Kopf leicht zur Seite, ignorierte den Schmerz oder versuchte es zumindest, um die eintretende Person anzusehen.
 Meine Augen, meine Fantasie mussten mir einen Streich spielen, ich zwinkerte mehrmals, um das Hirngespinst zu vertreiben. Doch es war keine Einbildung, und schließlich musste ich es einsehen.
 Im Türrahmen stand, eine gelbe Rose in der Hand und Tränen in den Augen, lächelnd, eine mir vertraute Person.
 Alice.

Ende Kapitel 2



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